Ein Interview mit Univ.-Prof. Dr. med. Jörg Janne Vehreschild, Klinik I für Innere Medizin. Er ist Leiter der wissenschaftlichen Arbeitsgruppe „Kohorten in der Infektions- und Krebsforschung“ am Universitätsklinikum Köln, Oberarzt für Hämatologie, Onkologie und Infektiologie am Universitätsklinikum Frankfurt sowie Sprecher und Koordinator des Nationalen Pandemie Kohorten Netzes (NAPKON)

Univ.-Prof. Dr. med. Jörg Janne Vehreschild

BAG SELBSTHILFE: Herr Prof. Vehreschild, wie schätzen Sie die derzeitige Lage bezüglich Long und Post COVID in Deutschland ein?

Prof. Janne Vehreschild: Sie ist unübersichtlich, weil wir immer noch das große Versorgungsdefizit haben. Zwar richten inzwischen viele Kliniken Post COVID-Sprechstunden ein, aber die Wartelisten gehen mancherorts über Monate. Und wir haben immer noch COVID-Ansteckungen in der Bevölkerung, die in wahrscheinlich nicht geringer Zahl voranschreiten, doch wir können nicht erfassen, wie viele Leute einen Post COVID-Zustand entwickeln. Deswegen ist die aktuelle Lage im Grunde kaum zu beurteilen.

Sie sind unter anderem Sprecher und Koordinator des Nationalen Pandemie Kohorten Netzes – kurz NAPKON. Seit wann läuft dieses Projekt und was wird in der Studie erhoben?

NAPKON ist ein Projekt des vom Bundesministerium für Bildung und Forschung geförderten Netzwerks Universitätsmedizin*. Im Kern ist NAPKON eine Kohortenstudie, also eine Studie, die Menschen mit einem bestimmten Gesundheitsmerkmal nachverfolgt und über einen längeren Zeitraum einem Untersuchungsprogramm zuführt. Dann wird geschaut, wie sich der Gesundheitszustand dieser Person weiterentwickelt. Wir nennen es Kohorten Netzwerk, weil es bei der Fördermaßnahme darum ging, die vielen, oft kleinteiligen Forschungsaktivitäten in Deutschland auf nationaler Ebene zu bündeln und gemeinsam voranzuführen. Deutschlandweit sind 70 Studienzentren beteiligt, darunter Universitätskliniken, Krankenhäuser, Hausärzt*innen, niedergelassene Infektiolog*innen – auch einige Reha-Kliniken.

Menschen mit einer COVID-Erkrankung werden über die Kliniken und auch Gesundheitsämter identifiziert und dann umfassend untersucht, insbesondere ob nach der akuten Infektion ein Post COVID-Zustand eingetreten ist. Diese Untersuchungen sind meines Wissens weltweit einmalig umfangreich. Wir haben sehr viele Fragebögen zum Gesundheitszustand, in denen Teilnehmende zu allen Bereichen der Gesundheit befragt werden; etwa nach Müdigkeit, Ängsten, Depressionen, Konzentrations- und Arbeitsfähigkeit oder der Lebensqualität allgemein. Sie bekommen außerdem Organuntersuchungen, teilweise Kernspintomographien. Zusätzlich werden umfassend Blutproben abgenommen und nach modernsten Verfahren untersucht. Dazu zählen etwa Genom Untersuchungen, komplexe Untersuchungen des Immunsystems, der Zytokine oder Metabolite, die aufgrund der Erkrankung erzeugt werden; NAPKON ist ein außergewöhnlich umfassendes Untersuchungsprogramm.

Was verspricht man sich von diesen Daten – und wie viele Studienteilnehmer*innen gibt es Stand heute?

Wir haben kürzlich unseren 7.000sten Patienten gefeiert. Und glauben, dass wir mit NAPKON die einmalige Chance haben, die Post COVID-Erkrankung sozusagen im Entstehen zu beobachten und frühzeitig zu sehen: Wo stellt sich die Weiche? Warum geht es bei manchen schief und bei manchen verläuft es gut? Zum einen wollen wir so den Mechanismus von Post COVID besser verstehen – und wie man einen Schaden vielleicht rückgängig machen kann. Zum anderen geht es darum, schon in der Akutphase die Weichen besser stellen zu können. Das sind Besonderheiten, die nur ganz wenige Studien auf der Welt haben. Gleichzeitig müssen wir damit umgehen, dass die Gruppe der Betroffenen, die Impfungen, Behandlungsmethoden und das Virus selbst sich stetig weiterentwickelt haben. Das macht zuverlässige und reproduzierbare Untersuchungen der COVID-19 Erkrankung zu den komplexesten Aufgaben in der medizinischen Wissenschaft, die ich kenne.

Lassen sich auf Basis der bestehenden Datensätzen bereits Muster zu Krankheitsverläufen ableiten?

Generell beobachten wir rund 20 Prozent der Teilnehmenden, die mit ihrer Gesundheit im Nachgang der COVID-Infektion nicht zufrieden sind. Die „Blackbox“ ist: Wie viele davon sind wirklich durch die Viruserkrankung verursacht? Und wie viele haben eigentlich ein anderes Gesundheitsproblem, was jetzt erst aufgefallen ist.

Auch im psychosozialen Bereich gibt es gerade viele globale Ängste, etwa durch den Krieg. Und durch das Homeoffice haben wir viel weniger soziale Kontakte und bewegen uns weniger. Es kommt zu mehr Herzinfarkten und Schlaganfällen. Man kann – auch ohne an COVID zu erkranken – an der Pandemie erkranken. Und dann gibt es die Menschen, die konkret durch das Virus geschädigt worden sind. Zum einen diejenigen, die im Rahmen der akuten Erkrankung Organschäden genommen haben – und die Gruppe derer, die im Nachgang der Infektion ein Krankheitsbild entwickeln, das sich gar nicht aus der akuten Infektion herleitet. Hierzu gibt es verschiedene Hypothesen, die man in der Literatur findet. Etwa eine Viruspersistenz oder immunologische Störungen mit der Bildung von Autoantikörpern.

Lassen sich die diffusen Beschwerden grob clustern?

Es ist vieles im Bereich verschiedener zentralnervöser Störungen, zudem sehen wir häufig das Gefühl der Müdigkeit, der eingeschränkten Belastbarkeit oder kognitiven Störungen. Es geht bis hin zum Vollbild des chronischen Erschöpfungssyndroms ME/CFS, welches nach unserer Einschätzung mit unter einem Prozent jedoch eine eher kleine Untergruppe der von Post COVID betroffenen ist. Gar nicht selten sind Schmerzsyndrome. Dazu kommen die erwähnten Organfunktionsstörungen, insbesondere bei Nieren, Lunge und Herz.

Können Sie bereits konkrete Risikofaktoren für Post COVID benennen?  

Ganz simpel lässt sich sagen, dass ein schwerer akuter Verlauf stets ein Risikofaktor für eine Post COVID-Erkrankung ist. Was nicht heißt, dass es nicht auch Patient*innen mit akut asymptomatischem Verlauf gibt, die dann doch ein Post COVID-Syndrom entwickeln. Für einen schweren akuten Verlauf ist einer der größten Risikofaktoren, nicht geimpft zu sein. Gefährdet sind zudem alte Menschen und Menschen mit verschiedenen Formen der Immunschwäche, Autoimmunerkrankungen oder Krebserkrankungen. Insgesamt scheinen Frauen etwas häufiger von Post COVID betroffen zu sein.

Sie verfügen über Blutproben der Patient*innen. Gab es bereits Untersuchungen dazu, inwiefern sich die Erkrankung über Biomarker erfassen lässt, wie es bereits in anderen Studien gezeigt wurde?

Das sind Untersuchungen, die gerade noch laufen – und eine große Chance von NAPKON, denn in vielen der bereits veröffentlichten Studien wurden nur winzige Patientengruppen mit zehn bis 20 Proband*innen untersucht. Man fand unter anderem einige Ursachen in der Genetik und der Aktivierung von bestimmten Genen. Genau diese hoch detaillierten Untersuchungen können wir jetzt mit Proben von 7.000 Personen wiederholen. Das wird vermutlich noch einige Monate dauern. Dabei können wir uns auch auf die Suche nach neuen Sachen machen, die andere Wissenschaftler*innen noch nicht gesehen haben.

Gerade bei COVID haben wir sehr viel Forschung gesehen, die zunächst als zielführend galt und gründlicher wissenschaftlicher Betrachtung doch nicht standgehalten hat. Man denke an bestimmte Antibiotika und Parasitenmittel wie Ivermectin. Kleine, internationale Studien wiesen zunächst auf ihre Wirksamkeit hin, aber in den großen, gut gemachten Studien sind sie komplett durchgefallen. Der Wunsch ist sehr groß, schnell etwas zu tun und wir brauchen auch einen pragmatischen Ansatz. Aber man muss gleichzeitig aufpassen, wenn plötzlich irgendwo ein Wundermittel auftaucht.

Dennoch sagen Sie, es brauche einen pragmatischen Ansatz. Ist es aus Ihrer Sicht denkbar, bereits jetzt Probandengruppen der NAPKON Studie bestimmte, bestehende Medikamente ausprobieren zu lassen, die nachweislich keine großen Nebenwirkungen haben?

Es gibt derzeit verschiedene Ideen, was Post COVID-Zustände verursachen könnte. Und wir können untersuchen, ob bestimmte Menschen von bereits zugelassenen Medikamenten profitieren könnten, die hier im neuen Anwendungszweck ausprobiert werden. Oder man versucht Verfahren wie Blutwäsche und schaut, ob wir so dem Immunsystem wieder in die Spur helfen. Wir können solche Dinge zukünftig gezielt anbieten und dann in gut gemachten Doppelblindstudien prüfen. Das finde ich sehr, sehr wichtig.

Ich glaube auch, dass wir ganz viel Versorgungsforschung leisten müssen, um zu sehen, von welchen Angeboten Menschen eigentlich profitieren. Bringt es etwas, wenn sie psychosomatisch begleitet werden – oder stört das nur? Und was ist ein gutes Reha-Verfahren? Es geht darum zu beobachten, was jetzt im Rahmen der ärztlichen Behandlungsfreiheit eigentlich im Land passiert und welche Sachen sich davon als nützlicher erweisen als andere. Und dann gilt es, sich gegenseitig fortzubilden.

Es bleibt also spannend.

Aber genauso müssen wir weiterhin die Ursachen und Krankheitsmechanismen verstehen und nach Präventionsstrategien suchen. Es kann dabei auch herauskommen, dass wir teilweise ganz neue Substanzen brauchen, die wir erst entwickeln müssen.

Wie beurteilen Sie die Forschungssituation in Deutschland – auch im Vergleich zu anderen Ländern?

Die Forschung in Deutschland ist besser als sie dargestellt wird. Natürlich haben die USA ein milliardenschweres Programm für COVID aufgelegt und wir bekommen von dort – auch durch einen deutlich niedrigeren Datenschutz – immer noch häufig die schnellen, guten Forschungsergebnisse.

Ich finde es interessanter, sich mit England zu vergleichen. Dort ist man in einigen Punkten Taktgeber für Europa, was die mechanistische und klinische Forschung betrifft. Sie haben viele Jahre vor uns angefangen, sich stärker in Netzwerken organisiert. Davon können wir lernen. Das Netzwerk Universitätsmedizin, in das NAPKON eingebettet ist, ist ein Schritt in diese Richtung.

Wenn Sie die Entscheidungshoheit hätten: Was würden Sie derzeit bezüglich der Versorgung von Post COVID-Patient*innen ändern?

Ich glaube, dass es momentan ganz klar an Geld fehlt. Überall, wo ich hinsehe, gibt es eine sehr große Hilfsbereitschaft. Doch gerade bei einer Hochschule, die nach Hochschulambulanzpauschale abrechnet, kann man bezüglich der Labor- und Personalkosten nur wirtschaften, wenn man einen „normalen“ Kranken vor sich hat. Aber wir haben es mit hochkomplexen Fällen zu tun, die häufig mit haufenweisen Befunden kommen. Ich glaube daher, bei den meisten Patient*innen schreibt man rote Zahlen, wenn man sie als Klinik vernünftig versorgt.

Dazu muss man sagen, dass die Ausstattung von Kliniken in den letzten 10 Jahren so weit reduziert wurde, dass keine finanziellen Spielräume mehr da sind. Eine vernünftige Abrechnungsziffer wäre daher ein Riesenschritt!

Was möchten Sie unseren Leser*innen, darunter auch Betroffenen, noch mitgeben?

Zum einen würde ich denen, die sich noch nicht gut versorgt fühlen, gerne mitgeben, dass sie beharrlich bleiben sollen. Wenn sie das Gefühl haben, dass sie noch nicht richtig versorgt wurden, dann die Nerven bewahren und sich in die nächste Sprechstunde einschreiben. Ich glaube, dass man eine Ärztin oder einen Arzt finden kann, die oder der einen durch die Erkrankung begleitet. Für diejenigen, die bereits diagnostiziert und versorgt sind: Ich glaube, die ganze Forschung zu Post COVID fängt gerade erst so richtig an. Und ich bin sehr zuversichtlich, dass wir über die nächsten Monate und wenigen Jahre noch ganz viel entdecken werden. Dazu, wie wir das Krankheitsbild besser verstehen, wie wir den Menschen besser helfen oder sie hoffentlich sogar ganz heilen können. Es ist einerseits Geduld gefragt, aber natürlich auch die Unterstützung der Community, damit das Thema weiter Aufmerksamkeit behält und die Wissenschaft die notwendige Förderung erhält.

Wenn Leser*innen sich näher über das Projekt NAPKON und unsere Forschung informieren möchten, können sie sich auf unserer Homepage napkon.de umsehen oder sich gerne mit Fragen an uns wenden.

Vielen Dank für das Gespräch.

* Das Bundesministerium für Bildung und Forschung fördert das Netzwerk Universitätsmedizin unter dem Förderkennzeichen 01KX2121.